Der Autor

   „Darf ich mich zu ihnen setzen?“ Eine dunkle Stimme holt mich aus meinen Gedanken. Erschrocken klappe ich das Buch zu, in dem ich gerade gelesen habe und schaue in warme braune Augen. Unfähig etwas zu sagen, weil ich gedanklich noch in den letzten Zeilen des Buches stecke, nicke ich nur freundlich und rücke auf der Parkbank etwas nach rechts.

„Was lesen sie denn?“, fragt der Fremde freundlich, nachdem er sich zu mir gesetzt hat und auf das Buchcover schielt. 

Ich schüttle kurz den Kopf, um ins hier und jetzt zurückzukommen. 
„Ach, sie wollen es mir nicht verraten“, schlussfolgert er. Wieder schüttle ich den Kopf und muss lächeln. „Nein, so ist es nicht“, sage ich leise und streiche über das Buch, was auf meinem Schoß liegt. „Es ist nur so, es fesselt mich. Dieses Buch …“, beginne ich den Satz, spreche aber nicht weiter, weil ich nicht weiß, ob ich meine Gedanken mit einem wildfremden Mann teilen möchte. 

„Ich habe schon gemerkt, dass sie sehr vertieft sind.“ 

Ich spüre Hitze in mir aufsteigen, meine Wangen glühen. Es ist mir sehr unangenehm, dass er mich beobachtet hat. 

„Sie haben das Kind nicht bemerkt, dass dort hinten gestürzt ist.“ Er zeigt auf eine Gruppe Menschen, die sich um einen kleinen Jungen kümmert, der herzzerreißend weint. Das habe ich tatsächlich nicht mitbekommen, denke ich.

„Oder der Mann, dessen Hund weggelaufen ist.“ Er zeigt auf einen älteren Herrn, der wild gestikulierend mit der Hundeleine nach seinem Vierbeiner ruft. 

Auch das habe ich nicht mitbekommen. 

„Daraus schließe ich, sie lesen ein ausgezeichnetes Buch?“, sagt er und schaut mich herausfordernd an. 

„Ich finde mich so wieder in diesem Buch“, gestehe ich und schaue ihm in die Augen. Es ist eigentlich nicht meine Art, fremde Menschen so schnell in mein Leben zu lassen, aber bei diesem Mann, der ungefähr mein Alter haben könnte, fühlt es sich auf unbekannte Weise richtig an. 

„Was meinen sie?“ Interessiert wendet er sich mir zu und legt seinen rechten Arm auf die Rückenlehne der Bank. Als ich kurz seine Hand aus dem Augenwinkel betrachte, zieht er sie wieder ein Stück zurück, um mich nicht aus Versehen zu berühren.

„Ich heiße fast wie sie“, kichere ich, „sie heißt Lisa und ich Luisa.“ 

Er nickt, „das verbindet natürlich.“ Es hört sich nicht so an, als ob er sich lustig darüber macht. Er scheint es ernst zu meinen. Das ermutigt mich, weiterzureden.

„Sie hat so viel Mut, ich wünschte, ich hätte nur ein wenig davon“, sage ich stockend. „Sie haben bestimmt eine Menge Mut“, sagt er, lehnt sich entspannt an die Lehne der Bank und streckt die Beine weit von sich. 

„Ich habe keinen Mut“, sage ich leise, „den hatte ich noch nie.“ 
Ich umklammere das Buch auf meinen Schoß. 

„Ich glaube, sie haben sehr viel Mut!“, erwidert er und lächelt mich an.

„Wie kommen sie darauf?“, frage ich. 

„Vielleicht ist die Zeit bislang nicht gekommen.“

„Was meinen sie?“

„Der richtige Zeitpunkt. Man muss zur richtigen Zeit mutig sein!“, sagt er und schaut mir tief in die Augen.

„Man muss zur richtigen Zeit mutig sein“, wiederhole ich die Worte leise, „das ist genau der Satz, den ich vorhin gelesen habe, bevor sie mich angesprochen haben“, sage ich zu ihm und sehe, wie seine Mundwinkel leicht zucken. 

„Kennen sie das Buch?“, frage ich ihn und sehe ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen. „Ich habe schon davon gehört“, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln. „Oh Entschuldigung“, platzt es mir raus, „es ist doch eher ein Buch für Frauen, mit viel Gefühl und Herzschmerz, wenn es ihnen peinlich ist, dass sie es gelesen haben, dann habe ich die Frage nie gestellt.“ Mit einer Geste versiegele ich meine Lippen. 

Jetzt lacht er laut auf. „Peinlich ist mir so etwas nicht, ich stehe dazu, dass ich auf Gefühle und Herzschmerz bei Büchern stehe.“ 

Es fühlt sich so gut an, mit ihm auf dieser Bank zu sitzen und diese Unterhaltung zu führen.

„Herzschmerz also“, sage ich grinsend. 

„Solange ein Happy End folgt, bin ich dabei.“ Nickend stimme ich ihm zu.

„Ich heiße Kilian“, sagt er, wieder mit dieser dunklen Stimme, die sich wie Honig um mein Herz legt. „Ich bin Luisa“, sage ich und bin froh, dass meine Stimme nicht versagt.

„Wollen sie mir verraten, wofür sie sich mehr Mut wünschen?“ 

„Ich weiß nicht genau“, sage ich und schaue auf meine Schuhe, die mit dem Staub, der trockenen Erde überzogen sind. Ich bewege meine Füße und wirbele dadurch noch etwas mehr Staub auf.

„Wissen sie nicht, wofür sie mehr Mut brauchen, oder wollen sie es mir nicht erzählen?“ Ich zucke mit den Schultern und muss kurz überlegen. 
„Ich glaube beides“, sage ich so leise, dass es mich wundert, dass er mich verstanden hat. 

„Aber sie können es mir ruhig erzählen“, in seiner Stimme schwingt so viel Vertrauen mit, dass ich mir vorstellen kann, mich ihm anzuvertrauen. 

„Ich erzähle ihnen dann auch, wo ich so richtig viel Mut gebraucht habe.“ Wieder blitzen seine Augen auf. Ich bin neugierig auf seine Geschichte und kann mir nicht vorstellen, dass es etwas gibt, was ihm schwerfällt. 

Ich räuspere mich, unsicher, was ich ihm erzählen soll. Sein Arm liegt wieder auf der Rückenlehne. Ich spüre seinen Blick auf mir, der mich fesselt.

„Es gibt eine Sache, für die ihr Herz brennt“, stellt er lächelnd fest und stützt sein Kinn auf die Handinnenfläche. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, am liebsten würde ich laut JAAA schreien, traue mich aber nicht. 

„Okay, dann sind wir schon einen Schritt weiter“, sagt er und zieht seine Stirn in Falten. Ich muss lachen, weil seine Augen sich automatisch zu Schlitzen verengen.

„Wie meinen sie das?“, frage ich immer noch lachend. „Sie sind rot geworden und haben im ersten Moment nicht widersprochen, also gibt es etwas, wofür sie brennen.“ Er legt seine Stirn in Falten und wieder verengen sich seine Augen zu engen Schlitzen. „Sie können …, ich muss nur kurz überlegen“, er tippt mit seinem Zeigefinger auf seine Lippe, „es hat mit Musik zu tun“, ruft er laut aus und klingt so sicher, dass ich kurz zusammenzucke. Woher weiß er das? Er klatscht in die Hände und freut sich wie ein kleines Kind, das ein Geheimnis herausgefunden hat. 

Ich bleibe sitzen und schaue auf das Buch, was immer noch auf meinem Schoß liegt. „Okay?“, sagt er langsam, „das ist also bis jetzt nicht alles.“ Sein Blick brennt auf meiner Wange. Er mustert mich, schaut von meinem Gesicht zu meinen Händen, mit denen ich das Buch umklammere, bis zu meinen Schuhen und dann wieder zurück. „Ich glaube, ihre Leidenschaft ist das Klavierspielen.“ Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich ihn an. 

Siegessicher lehnt er sich nach hinten, verschränkt die Hände an seinem Hinterkopf und streckt seine Beine weit von sich. „Also fassen wir zusammen. Sie spielen leidenschaftlich Klavier und darüber hinaus haben sie auch schon einmal was komponiert, natürlich schreiben sie auch ihre eigenen Texte und können sie auch singen!“ Mir bleibt der Mund offenstehen, er hat es so präzise ausgedrückt, besser hätte ich es auch nicht sagen können, bis auf den kleinen Unterschied, dass ich nicht so gut bin.

„Für den Hausgebrauch reicht es“, sage ich und schäme mich plötzlich ihn in die Irre geführt zu haben. Ich fühle mich wie eine Betrügerin. „Ich kann ein wenig klimpern“, sage ich schnell. 

„Das glaube ich nicht!“ Kilian lacht leise auf. „Mir kommt das alles sehr bekannt vor“, sagt er und schaut mir tief in die Augen. 

„Verraten sie mir jetzt, wofür sie ihren Mut gebraucht haben?“, frage ich und finde mich schon sehr mutig dabei, ihm die Frage zu stellen. Er wendet seinen Blick von mir ab, setzt sich aufrechter hin und scheint zu überlegen.

„Ich kann ihnen sagen, wofür ich ihn auf alle Fälle benötigen werde.“ Mein Blick haftet auf ihn, ich bin so gespannt, seine Geschichte zu hören. „Ich benötige meinen ganzen Mut …“, er zögert kurz, „um sie zu fragen, ob sie morgen in die Buchhandlung am Schloss kommen wollen.“ Er atmet tief aus, als ob es ihn Überwindung gekostet hätte, mich das zu fragen.

„Ich? … Ich … komme gerne“, stottere ich, weil ich zwar etwas anderes erwartet habe, mich aber riesig freue, ihn wiederzusehen. „Können sie um halb vier da sein?“, fragt er und sein Lächeln hinterlässt eine angenehme Wärme in meinem Brustkorb.

„Ich komme gerne“, bestätige ich.

Nervös schaut er auf die Uhr. Er wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab und steht langsam auf. „Ich muss leider los, es war ein wunderschöner Nachmittag, hier mit ihnen, auf dieser Bank“, sagt er und schaut sich um. „Ich fand es auch wunderschön mit ihnen.“ Warum ist er so nervös? 

„Würden sie mir das bis morgen leihen?“ Er deutet auf das Buch. „Kein Problem“, sage ich und reiche es ihm. „Es ist meine Versicherung, dass sie wirklich kommen. Bis morgen, ich freue mich“, sagt er und hebt kurz seine Hand. „Ich werde da sein“, versichere ich ihm und schaue ihm nach. Im Gehen dreht er sich noch einmal kurz um, um mir zuzuwinken, was meine Vorfreude auf morgen steigen lässt. 

 

 

 

Ich betrete um kurz vor halb vier die Buchhandlung und werde sofort stürmisch begrüßt. „Schön, dass sie so kurzfristig kommen konnten, es kann gleich losgehen.“ Der Mann, der etwas jünger als ich zu sein scheint, zieht mich durch die Buchhandlung, an Regalen vorbei und bleibt abrupt stehen, sodass ich gegen ihn remple. Er deutet auf den Flügel, der auf einer kleinen Bühne steht. „Wie sie es wollten, ich habe alles organisiert.“ Stolz präsentiert er sein Werk. 

„Ich bin nicht …, das ist eine …“, stottere ich und werde einfach die zwei Stufen nach oben geschubst. „Sie können gleich anfangen, die ersten Gäste sind schon da.“ Mit diesen Worten ist er auch schon wieder verschwunden. Was zum Teufel mache ich hier? 

Voller Ehrfurcht streiche ich vorsichtig über die Tasten und drücke eine langsam nach unten. Der Klang löst einen Schauer aus, der mir langsam den Rücken herunterkriecht. Ich setze mich an den Flügel und spiele verschiedene Tasten. Die unwillkürliche Reihenfolge, wird abgelöst von einer Melodie, die sich langsam entwickelt. Ohne darüber nachzudenken, drücke ich die Tasten und versinke immer mehr in mein Schaffen. Ich summe leise die Melodie mit. Die Worte, die sich langsam in meinem Kopf bilden, werden zu einem Text. Mein Herz schlägt schneller und kleine Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Das Zittern meiner Hände hindert mich am Weiterspielen. Ich muss kurz eine Pause machen. Ich behalte meine Augen geschlossen und spüre, wie mich die Melodie in einen Strudel der Gefühle zieht. Mut, Mut, Mut, ist das Einzige, was in meinem Kopf hämmert. Was hat Kilian gestern gesagt? Es gibt den richtigen Zeitpunkt, um mutig zu sein. 

Ich lege wieder meine Finger auf die Tasten. Die Melodie ist noch so präsent in meinem Kopf, dass es mir nicht schwerfällt zu beginnen. Meine Finger fliegen über die Tasten und der Text entsteht wie von selbst in meinem Kopf, als ob ich ihn vorgelesen bekomme. Erst summe ich nur, dann singe ich den Text, als ob ich es schon hundertmal gemacht hätte. Ich kann nicht verhindern, dass sich Tränen aus meinen Augenwinkeln lösen. 

Mit den letzten Akkorden fällt eine schwere Last von mir und ich sacke in mir zusammen. Meine Schultern fallen nach vorn. Ich höre Applaus. Bilde ich es mir ein? Ich hebe meinen Kopf und sehe Menschen vor der Bühne stehen, die mir applaudieren. 

Der Mann von eben prostet mir lächelnd mit seinem Sektglas zu.

Er kommt zu mir auf die Bühne. Ich springe auf und möchte die Situation aufklären. „Es tut mir leid, ich bin nicht …“, versuche ich zu erklären, bis er mich unterbricht. 

„Es war wunderschön, kannten sie meinen Bruder? Der Song passt so gut zu seinem Buch.“ Der Mann deutet auf das Plakat hinter uns, was mir noch gar nicht aufgefallen ist und nimmt dann das Buch in die Hand, was auf dem Flügel liegt. 

Ich gehe drei Schritte zurück, bis ich den Flügel in meinem Rücken spüre. Es ist das Buch, das ich gestern Kilian geliehen habe. Ich schaue auf das Plakat und sehe ihn, es sind dieselben warmen braunen Augen, die mich gestern im Park angeschaut haben. 

„Ich bin mit ihm hier verabredet“, sage ich und deute auf das Plakat. Dann wird mir seine Formulierung bewusst. Kannten sie meinen Bruder? 

Verwirrt schaut er mich an. „Was meinen sie? Das kann nicht sein, er ist vor fünf Jahren …“ Er stockt. Der Mann, der eben noch vor Freude sprühte, wirkt in sich zusammengefallen. Er senkt seinen Blick. 

„Was ist passiert?“, frage ich und schäme mich im nächsten Augenblick so unsensibel zu sein, aber ich muss wissen, was hier los ist.

Er räuspert sich. „Es war vor fünf Jahren, im Park … er hat dort oft an seinem Buch gearbeitet … auf der Bank, an der großen Eiche und dort hatte er einen Herzinfarkt.“ 

Mein Herz schlägt schneller, es war die Stelle, an der wir gestern zusammensaßen. 

„Aber das kann nicht sein, er war doch gestern dort!“, sage ich leise und schaue den Mann vor mir an. Er nimmt langsam meine Hände in seine und streichelt mit seinen Daumen über meine Handrücken. Unsere Blicke haben sich ineinander verstrickt und obwohl seine Augen in einem dunklen Blau glänzen, was an ein ruhiges Meer erinnert, strahlen sie die gleiche Wärme aus, die ich gestern bei Kilian gesehen habe. 

„Er war so alt wie ich heute“, sagt er mit brüchiger Stimme. Wieder senkt er seinen Blick, wahrscheinlich möchte er seinen Schmerz verstecken, den ich mit jeder Faser spüren kann. Ich habe das Gefühl, dass meine Beine mich nicht mehr tragen können. Ich taste nach dem Hocker und lasse mich auf ihn fallen. Kilians Bruder setzt sich neben mich.

Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, bis ich eine dunkle Stimme in meinem Kopf höre. „Du musst zur richtigen Zeit mutig sein“, flüstere ich. Tränen brennen in meinen Augen und trotzdem muss ich lächeln. Ich spüre einen Schauer, der durch meinen Körper zieht und eine angenehme Wärme hinterlässt.

„Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie oft mein Bruder das zu mir gesagt hat“, sagt er mit dem Stolz in der Stimme, die nur ein kleiner Bruder haben kann. 

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln bewegen.

„Ich hätte das eben niemals gemacht, wenn er gestern nicht gewesen wäre“, gestehe ich leise, „er hat mir den Mut gegeben.“ Ich spüre eine Hand auf meiner und nehme die Wärme wahr, die direkt in mein Herz wandert. „Ihr Bruder war ein außergewöhnlicher Mann“, füge ich noch hinzu und schaffe es nicht meine Tränen zurückzuhalten. 

„Das war er!“, sagt er und drückt leicht meine Hand.

Unsere Blicke treffen sich. Ich sehe sehr viel Ähnlichkeit: die gleichen vollen Lippen, die geschwungenen Augenbrauen und das kleine Grübchen auf der linken Wange. Er zieht seine Augenbrauen zusammen, was Falten auf seiner Stirn entstehen lässt und seine Augen zu Schlitzen verengt. Ich muss lächeln, weil ich es gestern schon genau so gesehen habe. 

Er fängt mit seinem Finger eine Träne auf. „Geht es dir gut?“, fragt er leise und ist mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre. 

„Mir geht es gut“, sage ich und muss mich räuspern, „es war mir eine große Ehre für deinen Bruder heute spielen zu dürfen“.

© Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.