Ich sehe sie, sie steht in diesem Regal, ein anderes Regal als sonst. Ob sie im Angebot ist? Ich schaue mir die Preisschilder an, obwohl ich kaum meine Augen von ihr lassen kann. Oh jaaa, sie ist diese Woche günstiger, es ist ein Angebot, drei für zwei. Mein Herzschlag setzt einmal kurz aus, so freut es mich. Ich greife nach ihr und spüre das glatte kalte Glas in meinen Fingern und ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Nur kurz, dann habe ich mich wieder im Griff. Ich muss meinem Therapeuten davon erzählen, wie stark ich war, dass ich nur ein Glas trotz des Angebotes gekauft habe. Oder soll ich? Vielleicht zwei? Ergibt das Sinn? Wenn ich dann noch ein Glas nehmen kann? Die Verkäuferin an der Kasse wird mich ohnehin ansprechen und mich bitten, noch eins zu nehmen. Ich kann dann sagen, dass es nicht meine Schuld ist. Es war doch ein Angebot. Schweißtropfen bilden sich auf meiner Stirn. Ich wische sie mit meiner zitternden Hand weg. Was soll ich bloß tun? Verzweiflung macht sich in mir breit. Ich gehe einen Schritt zurück. Manchmal reicht es, den Blickwinkel zu ändern. Doch dieses Mal nicht. Sie steht neben den Haferflocken, die auch im Angebot sind. Ob ihr das gefällt? Ich würde sie gerne fragen, traue mich aber nicht. Nicht hier, keiner darf wissen, was für ein Verhältnis wir haben. Ich schließe kurz die Augen und versuche mich zu konzentrieren. Vielleicht schickt sie mir Schwingungen? Als ich das Kribbeln in meinem Körper spüre, weiß ich, dass sie es ist. Sie will nicht hier stehen, nicht neben den Haferflocken. Ich kann es verstehen. Ich soll sie mitnehmen. »Alle«, sagt sie. Ich schüttele den Kopf, das geht nicht. „Es tut mir leid“, flüstere ich. Das Kribbeln wird stärker, die Stimme lauter. „Du musst“, zischt sie mich an. Erschrocken öffne ich die Augen und schaue mich um. Keiner scheint sie gehört zu haben, nur ich. Ich gehe wieder ein Schritt nach vorn. „Was soll das?“ Frage ich sie. Ich blicke nochmals um mich, nur um sicherzustellen, dass mich keiner beobachtet. „Ich kann höchstens drei“, ich zögere kurz, „Maximal sechs Gläser mitnehmen.“ Ich spreche so leise, dass ich selbst nicht genau weiß, ob ich es laut ausgesprochen habe, oder die Stimme nur in meinen Gedanken war. „Alle!“ Zischt sie wieder und ich glaube, ihren süßlichen Atem wahrgenommen zu haben. Kurz vernebelt er meine Sinne. Dieser fruchtig frische Duft nach Erdbeeren kann ich auf meiner Zunge schmecken. Meine Synapsen sind kurz vor dem Durchdrehen. Ich hatte mir so fest vorgenommen, stark zu sein, hatte aber nicht mit einem Angebot gerechnet. Ich bin bisher nicht so weit. Ich habe mich falsch eingeschätzt. Mein Therapeut auch. Eine Stimme neben mir holt mich aus meinen Gedanken. „Was für ein tolles Angebot.“ Sagt die ältere Dame neben mir und ich kann nur nicken. Wie recht sie hat. Sie greift nach einem Glas. Die Erdbeeren darauf schauen mich strafend an. Warum sie? Warum nicht du? Scheinen Sie zu fragen. Ich schaue weg, kann es nicht mit ansehen. Da fällt mein Blick, ein Regal weiter, auf eine Pflaume. Süß schaut sie aus. Das Kribbeln aus meinem Körper verschwindet. Es wird von einem wärmenden Gefühl verdrängt, was sich in mir ausbreitet. Ich werde magisch angezogen. Wie selbstverständlich setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich vor ihr stehe. „Hallo“, hauche ich ihr entgegen. „Schön, dass du da bist!“, höre ich sie säuseln. Sie ist ein ganz anderer Typ, wie diese Erdbeere. Ich berühre sie vorsichtig. Ihr Glas wirkt nicht so kalt, ob es an ihrer Form liegt? Sie ist geschwungener, ihr Etikett leuchtender. Sie ist nicht im Angebot, was sie auch nicht nötig hat. Ich kann ein Glas mitnehmen, ohne mir Gedanken darüber zu machen. Und morgen kann ich wieder kommen und mir wieder ein Glas kaufen. In meinem Küchenschrank kann ich sie nebeneinander stellen. Ich habe ihn extra ausgeräumt. Ich habe Platz geschaffen, nicht nur in meinem Schrank, auch in meinem Leben. Die Zuversicht, eine richtige Wahl getroffen zu haben, durchflutet mein Körper. Ich greife nach einem Glas Pflaumenmus und habe das Gefühl, dass sie mir etwas entgegenkommt. Mein Herz hüpft, Tränen der Rührung bilden sich in meinen Augenwinkeln. Ich höre ein Stöhnen, dann ein Knarren. Mein Blick geht zurück zur Erdbeere, wutentbrannt schaut sie mich an. Dann passiert es, die Gläser rücken langsam an die Kante des Regals. Schelmisch lacht mich die Ober-Erdbeere an und schubst ein Glas nach dem anderen hinunter. Diese grinsen mir schadenfroh zu, sie scheinen gerne für ihre Anführerin in den Tod zu stürzen. Krach, klirr, fallen sie zu oben und zerspringen. Der klebrige, rote Brei verteilt sich, gemischt mit den Scherben vor meinen Füßen. Ich bin starr vor Schreck und die Pflaume, die ich immer noch in der Hand halte, krallt sich an meinen Fingern fest. Ich spüre, wie sie zittert. Eine Verkäuferin kommt angerannt und bleibt kopfschüttelnd vor mir stehen. Böse funkelt sie mich an. „Was ist hier passiert?“ Was soll ich ihr bloß sagen? Ich kann ihr unmöglich sagen, was ich gesehen habe. „Es tut mir leid, ich weiß nicht, wie das passiert ist.“ Sage ich, was ja zum Teil der Wahrheit entspricht. „Wollen sie jetzt ein Glas Erdbeermarmelade haben?“ Sie schnauft. „Dann nehmen sie sich eins oder drei und gehen sie, ich muss das jetzt alles sauber machen.“ Ich hebe meine Hand und zeige ihr mein Glas Pflaumenmus. „Nein, danke, ich habe meine Wahl schon getroffen.“ Sie schaut uninteressiert das Glas in meiner Hand an und lässt mich stehen. Lächelnd schaue ich meine Pflaume an. „Wir gehen jetzt zur Kasse.“ Sage ich leise und ich spüre ihr Nicken. Mit stolz geschwellter Brust nehme ich meinen Weg auf, vorbei an der Aprikosenmarmelade und an dem Johannisbeergelee. Ich habe es geschafft, ich fühle mich befreit. Meine Marmeladensucht habe ich durch Pflaumenmus in den Griff bekommen.
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