Erschöpft schleppe ich mich durch meine Wohnung, das Ziel ist die Küche. Mein Bein macht mir an manchen Tagen solche Probleme, dass ich kaum einen Fuß vor den anderen bekomme. Vor sechs Wochen wurde ich nach einem Unfall operiert und seitdem hat sich einiges für mich verändert. Meine Unabhängigkeit und mein Tatendrang sind seitdem stark eingeschränkt. Ja, ich bin fast achtzig, aber das hat mich noch nie zurückgehalten. Das Alter ist nur eine Zahl. Ich komme schnaufend in der Küche an und setzte mit einem Knopfdruck meinen Kaffee-Vollautomaten in Betrieb. Diese für mich dekadente Maschine musste ich unbedingt haben, nachdem mir so eine in meinem letzten Urlaub aufgefallen war. Mein Kurt hätte geschimpft, „Was sollen wir denn damit schon wieder?“ Hätte er laut gesagt und seine Hände vor sein Gesicht gehalten. Das tat er immer. Wo ich ihn kennengelernt habe, fand ich diese Eigenschaft noch als eine liebevolle Angewohnheit. Aber wie so oft wird man solche Eigenarten eines Tages leid. Ich liebte ihn und tue es noch immer. Er starb vor drei Jahren, plötzlich und unerwartet. Ich brauchte einige Zeit. Nach fast sechzig gemeinsamen Jahren hatte ich das Gefühl, dass auch ein Stück von mir gestorben ist. Ich habe seinen Tod bis heute nicht überwunden. Jeden Tag denke ich an ihn. Vor einem Jahr bin ich umgezogen. Unsere gemeinsame Wohnung erinnerte mich zu sehr an ihn und war für mich alleine viel zu groß. Jetzt wohne ich in einer kleinen, sehr gemütlichen Wohnung in einem anderen Stadtteil. Kurt hätte sie auch gefallen, obwohl er gesagt hätte, „Von hier ist es viel zu weit zum Einkaufen.“ Wobei er recht gehabt hätte. Bevor ich auf der Kellertreppe gestürzt bin, hatte mir der Weg bis zum nächsten Supermarkt nichts ausgemacht. Doch jetzt, mit der neuen Gehhilfe, komme ich nicht weit. Ich setzte mich mit meinem frischen Kaffee an den Tisch und schiebe mir den Hocker zurecht, damit ich mein Bein darauflegen kann. Sofort reibe ich mir die lange Narbe um mein Knie. Die wenigen Schritte vom Schlafzimmer bis in die Küche gehen zwar ohne Gehilfe, sind aber sehr beschwerlich. Ich schaue auf die Milchpackung, die auf dem Tisch steht, und muss grinsen. Seitdem diese Packung hier eingezogen ist, trinke ich meinen Kaffee lieber schwarz. Mein lieber Nachbar Chan wollte mir helfen und brachte mir verschiedene Lebensmittel, bevor er für vier Wochen in seine Heimat fuhr. Jetzt habe ich eine Packung Hafermilch zu Hause, die widerlich in meinen Kaffee schmeckt. Auch die Kichererbsen in der Dose und der Tofu gehören nicht unbedingt zu meinem Speiseplan. Ich muss mir ernsthaft Gedanken machen. Meine letzten Reserven sind aufgebraucht. Aus der neuen Nachbarschaft kenne ich keinen, den ich fragen könnte. Auch aus meinem alten Bekanntenkreis kann ich keinen um Hilfe bitten. Sie sind alle nicht mobil und müssten die Einkäufe mit dem Bus zu mir bringen. Wenn ich da an Else denke, die ohne OP noch schlechter laufen kann wie ich, schüttele ich den Kopf. Ich muss mobil werden, „Kuni, was machen wir jetzt, und vor allem, wie?“ Hätte mein Kurt mich gefragt. Er hat mich in achtundfünfzig Jahren Ehe nur einmal bei meinem vollen Namen Kunigunde angeredet, und da war er sehr, sehr sauer. Es war der Moment, als die Firma Elektro Wagner ihre erste Spülmaschine auslieferte und das ausgerechnet zu uns. Mitte der Siebzigerjahre war es eine echte Rarität in einem Privathaushalt. Vielleicht nicht in der Stadt, aber bei uns auf dem Land. Ich hörte von diesem technischen Wunderwerk und musste eine haben. Kurt schnaufte und murmelte vor sich hin, konnte sich aber vor den Elektrikern keine Blöße geben. Er riss sich zusammen, so sehr, dass er eine Woche nicht mit mir redete und das Essen in der Küche, mit diesem Ding, wie er sagte, verweigerte. Nach einer Woche fing er wieder an zu reden, allerdings nicht mit mir. Er redete mit den Nachbarn, denen er stolz seine neueste Errungenschaft zeigte. Ich stellte mich schmunzelnd dazu und sagte, wie froh ich über die Großzügigkeit meines Mannes wäre. Ab da war es wieder gut zwischen uns und er schloss Freundschaft mit Frieda, wie wir die neue Spülmaschine nannten. Diese Gedanken wärmen mein Herz, es fühlt sich an, als ob mein Kurt noch hier ist. Ich spüre ihn in meiner Nähe und höre ihn sagen: „Kuni, was machen wir jetzt und vor allem, wie?“ Das bringt mich wieder zu meinem Gedanken zurück, wie komme ich an Lebensmittel? Ich muss mal schauen, ob ich sie bestellen kann. Heutzutage kann man doch alle bestellen. Ich trinke meinen Kaffee aus und gehe langsam ins Wohnzimmer, setzte mich an den Esstisch, wo Kurts Laptop steht. Ich habe ihn mitgenommen, obwohl ich ihn nicht bedienen kann. Chan hatte mal dran gesessen, als seiner defekt war und er sagte, er funktioniere einwandfrei. Ich klappte ihn auf und drückte den Startknopf. Jetzt bin ich froh, Kurt immer wieder über die Schulter geschaut zu haben. Es dauert einen Moment, bis ich ein Bild von Kurt und mir sehe. Er war in meinen Augen sehr talentiert, was das technische Zeug anging. Mir wird es immer ein Rätsel bleiben, wie er das Bild von uns beiden auf den Laptop gezaubert hat. Aber egal, ich nehme mir vor, nicht aufzugeben, bis ich Lebensmittel bestellt habe. Ich finde die Zeile, in der man die Sachen eingibt, die man suchen möchte. Ich tippe vorsichtig Bestellung ein. Der Bildschirm verändert sich und zeigt mir Firmen an, keine davon kenne ich. Vielleicht muss ich es anders angehen. Wo war noch einmal das kleine Kreuz, ach hier, schließen. Ich sehe wieder meine Zeile und schreibe Kaufladen bestellen rein. Da sehe ich auch schon Onlinebestellung. Ich klicke mich weiter und bin stolz auf mich. Es fängt an, mir Spaß zu machen. Als Erstes suche ich Milch. Was hat Kurt immer gesagt, „überall gibt es eine Lupe, wo du deinen Suchbegriff eingeben kannst“, und es funktioniert tatsächlich auch mit Milch. Ich klicke die Milch an, sehe den Preis und einen gelben Balken, in dem ein Einkaufskorb abgebildet ist. „Das ist doch einfach“, murmle ich vor mich hin und klicke auf den Button. Da kommt diese Stimme, „Was sollen wir denn damit schon wieder?“ Ich schrecke zurück. Habe ich das wirklich gehört oder habe ich mir das eingebildet? Ich klicke noch mal auf den kleinen Einkaufskorb und wieder, nur lauter, „Was sollen wir damit schon wieder?!“ Das war mein Kurt. Mein Herz rast, meine Hände fangen an zu zittern. „Kurt?“, frage ich leise. Ich bekomme keine Antwort. Wie auch, ich rede hier mit einem Computer. Ich habe mir das bestimmt nur eingebildet. Sicherheitshalber suche ich mir eine andere Milch aus. Klicke auf den gelben Balken und lausche. Ein leises Stöhnen ist zu hören und dann, „Herrschaftszeiten, dann nimm sie halt.“ „Kurt“, rufe ich laut, das ist eindeutig mein Kurt. Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus und eine Gelassenheit, die man wahrscheinlich nur in meinem Alter haben kann. Sollen mich doch alle für verrückt halten, Kurt steckt in diesem Ding und redet mit mir. Ich finde diesen Gedanken so schön. Wie witzig, wie soll mein dicker Kurt denn nur hier hineinpassen. Ich muss kichern und suche das Brot. Mal sehen, was Kurt dazu zu sagen hat. Ich klicke es an und es kommt wieder, „Was sollen wir denn damit schon wieder?“ „Essen mein Lieber, was sonst.“ Sage ich ihm, wie schon so oft in achtundfünfzig Ehejahren. Ich klicke es noch einmal an und höre wieder, „Herrschaftszeiten, dann nimm es halt!“ Ich muss lächeln. Diese Worte geben mir so viel Wärme. Jahrelang habe ich sie verflucht, aber jetzt geben sie mir die Geborgenheit, die ich nach seinem Tod so vermisst habe. Dieses Spiel machen wir, bis ich alle Lebensmittel, die ich benötige, in meinen Warenkorb habe. Es war wie ein Einkauf mit Kurt. Als ob er bei mir gewesen wäre. Ich klicke auf die Kasse und höre ihn wieder, „Kuni, was machen wir jetzt und vor allem, wie?“ Ich würde am liebsten den Laptop umarmen. Ein Tränenschleier bildet sich in meinen Augen und ich sage, was ich immer gesagt habe. „Ach Schatz, das bekommen wir schon hin.“
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